Es war einmal eine Blumenelfe, die saß jeden Tag in ihrer Blumenwiese und unterhielt sich mit den Blumen. Doch sie war nicht glücklich, denn sie kannte schon alle Geschichten, die man sich in ihrer Wiese erzählte. Und die Wiese lag so abgelegen, daß nie ein Fremder vorbeikam und eine neue Geschichte mitbrachte.
So entschloß sie sich, selbst in die Welt hinauszugehen, um mit vielen neuen Geschichten zurückzukommen. Sie stieg die steilen Felsabhänge vorsichtig hinab, denn ihre Wiese war eine der höchstgelegenen Wiesen, die es überhaupt gab, weit über allen Bäumen.
Am ersten Abend kam sie bis zur Baumgrenze hinunter, und weil sie sehr müde war, legte sie sich unter dem erstbesten Baum, der ihr in den Weg kam, schlafen. Am nächsten Morgen wachte sie auf und wußte nicht, wo sie sich befand, denn sie war auf einer kleinen Waldeslichtung, die ein kleiner Bach durchfloß, mitten in einem tiefen Wald. Auch bemerkte sie keine Tiere, die doch in einem Wald sein sollten.
So ging sie zum Bachufer und blickte durchs Gestrüpp zur anderen Seite hinüber. Dort, auf der anderen Bachseite, sah sie ein Sternenkind im weißen Hemdchen, mit langen goldenen Haaren und einem Stern auf der Stirn, wie es die Füße ins Wasser hielt, sie anblickte und dabei lächelte.
Es sprach: "Es ist schon lange niemand in diesen Zauberwald gekommen, denn in der Nacht, wenn man schläft, transportiert er einen von einem Ort zum andern. Auch die meisten Tiere haben, sobald sie einen Weg fanden, diesen Wald verlassen, weil sie wußten nie, ob sie vielleicht neben einem Tiger oder auf einem Baumstamm im Wasser treibend kurz vor dem Wasserfall aufwachen würden. Nun warnen sie die Lebewesen, die rund um diesen Zauberwald leben; und die wenigen, neugierigen Tiere, die sich hier herein trauen, suchen fast alle einen Weg wieder hinaus, sodaß die Geschichten rund um den Zauberwald immer neue Nahrung erhalten.
So geht das nun schon seit ewigen Zeiten. Dabei ist in diesem Wald noch niemand gestorben, es sei denn an Altersschwäche. Und diese waren ururalt und gingen ganz friedlich aus ihrem Dasein.
Jetzt habe ich Dir genug erzählt, warum es hier so ist, denn ich habe gleich bemerkt, daß Du nichts von diesem Orte wußtest. Aber nun erzähle mir einmal, wie Du überhaupt hergekommen bist."
Die Blumenelfe erzählte von ihrer Blumenwiese hoch oben in den Bergen und den Grund ihrer Wanderung. Sie fragte auch das Sternenkind nach dem Grund seines Hierseins.
Dieses sprach: "Ich komme von einem Volk, das im Himmel wohnt und auf der Erde helfend eingreift, wenn Not am Mann ist. Und wir haben ein Übereinkommen mit dem Wald, daß wir jedes Lebewesen, das hereinkommt, über seine Eigentümlichkeiten aufklären. Doch fast niemand hört zu, da sie selbst schon vielerlei Geschichten wissen. So erfahren sie auch nicht, daß es im Wald große Schätze gibt, und daß hier nichts zu fürchten ist, auch wenn es noch so schrecklich aussieht.
Nun habe ich meine Aufgabe erfüllt und kehre in meine Heimat zurück. Auf Wiedersehen!"
"Auf Wiedersehen", sagte auch die Blumenelfe und winkte ihr zum Abschied noch zu. Dann machte sie sich weiter auf die Wanderung, und wenn sie Hunger hatte, aß sie, denn Nahrung gab es in Hülle und Fülle.
Und jede Nacht gelangte sie an einen anderen Ort.
Am dritten Tage traf sie einen Fuchs; doch sie fürchtete sich nicht, da sie die Rede des Sternenkindes noch im Ohr hatte. Als sie ganz nahe war, bemerkte sie, daß der Fuchs schon ganz verzweifelt vor Angst war. Er erzählte von riesengroßen, schrecklichen Steinköpfen, die Feuer spuckten, und ähnlichen schrecklichen Dingen. Er ließ sich von der Blumenelfe nicht beruhigen, und als ein Ast von einem Baum fiel, lief er in wilder Panik davon.
Am siebten Tage traf sie einen uralten Bären. Dieser erzählte, daß er, wenn er etwas Schreckliches sah, diesem den Rücken kehrte und davonging; auf diese Weise lebte er schon viele, viele Jahre friedlich dahin. Schätze hatte er jedenfalls noch keine entdeckt.
Einmal sah die Blumenelfe auch einen Menschen, der lief, daß ihm die Lungen barsten, und immer wieder zurückblickte. Aber sie konnte nichts hinter ihm entdecken. Sie traf auch einmal einen Frosch, der unbedingt wieder hinaus wollte, weil er sich nach seinem Weibchen sehnte.
Und einmal, als sie am Waldesrand erwachte, sah sie viele, viele Tiere, die draußen am Felde standen, mit ängstlichem Blick in den Wald starrten und miteinander tuschelten. Doch sie ging wieder in den Wald hinein.
Sie entdeckte auch die großen, schrecklich anzusehenden Steinköpfe, und wie sich das Sonnenlicht durch Kristalle, die die Zähne darstellten, in viele schöne Farben brach.
So erlebte sie viele Abenteuer, sprach mit einigen Tieren, die sie traf und ruhig genug zum Reden waren, entdeckte manchmal herrliche Edelsteine, die sie jedoch an ihrem Platze ließ, und ging jedesmal, wenn sie zum Waldrand kam, in den Zauberwald zurück. Nur eines machte ihr etwas Angst: ein großes Loch mitten auf einer Lichtung, dessen Tiefe sich ihren Blicken entzog.
Als sie nun schon zwölf Monate durch den Wald gewandert war und alle Plätze und Bewohner kannte, kam sie wieder an dieses große schwarze Loch. Doch diesmal wollte sie es erforschen.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen knüpfte sie den ganzen Vormittag aus Lianen ein Seil, das immer länger wurde, denn sie konnte sich nicht überwinden, hinunterzusteigen. Jedoch zu Mittag nahm sie sich ein Herz, stieß den riesigen Lianenberg, der ihr Seil war, ins Loch, nachdem sie ein Ende an einem starken Baum befestigt hatte, und stieg langsam mit Herzklopfen in die Tiefe.
Nach Stunden gelangte sie am Boden an und war erstaunt, daß es nicht völlig dunkel war, sondern irgendein Leuchten von den Wänden ausging. Sie sah auch, daß ihr Seil viel zu lang war, und das Lianenknäuel am Boden einen Tunneleingang halb verbarg. Daraufhin kletterte sie darüber hinweg und ging in den Tunnel hinein. Sie bemerkte, daß ein rhythmisches Schlagen, das sie leise schon am Anfang gehört hatte, immer lauter wurde, so laut, daß es ihr fast körperlich wehtat.
Da gelangte sie in eine große Höhle, in dessen Mitte ein großer Feuerball war, der sich zusammenzog und wieder ausbreitete und dabei den rhythmischen Laut verursachte. Sie umrundete den Feuerball, konnte aber keinen anderen Ausgang finden.
Sollte sie wieder umkehren und den überaus beschwerlichen Weg des Hinaufkletterns wählen? Denn vor dem Feuer hatte sie Angst. Darum setzte sie sich nieder und konnte sich nicht entscheiden, ob sie zurückgehen oder den Feuerball untersuchen sollte. Schließlich bemerkte sie, daß es eigentlich gar nicht so warm war, wie es neben einem so großen Feuer sein sollte, sondern überaus angenehm. Da getraute sich die Blumenelfe näher an das Feuer heran, zuckte aber jedesmal zurück, wenn sich der Feuerball ausbreitete. Das ging so eine Weile, bis sie es einmal übersah, und sie der Feuerball einholte, bevor sie sich weit genug zurückziehen konnte -- und nichts war geschehen, sie war noch ganz heil.
Sie faßte sich ein Herz und ging mutig in den Feuerball hinein. Weißes Licht umhüllte sie, und sie gewahrte dort, wo die Mitte des Feuerballes sein mußte, eine wunderschöne Frau in weißem Kleid und langen weißblonden Haaren. Vom Herzen dieser Frau ging das weiße Licht aus, und die Blumenelfe sah auch, daß das Licht im Herzrhythmus der Frau mitschwang.
Ganz versteinert stand sie nun da vor so viel Schönheit, bis sie die Stimme der Frau aus ihrer Verzauberung löste: "Schon sehr, sehr lange war niemand mehr hier, im Herzen des Zauberwaldes. Die wenigen, die bis zum Feuerball kamen, kehrten fast alle vor diesem wieder um. Hier im Herzen sind auch die größten Schätze verborgen. Du hast nicht von den Edelsteinen genommen, darum bist Du es wert, einen von meinen Schätzen zu erhalten. Doch zuerst mußt Du noch eine Aufgabe lösen: ich habe hier eine Harfe mit 64 Saiten. Wenn Du auf ihr ein Lied spielen kannst, das die Herzen der Lebewesen zum Tanzen bringt, bist Du für mein Geschenk auch würdig genug." Mit diesen Worten überreichte die Frau der Elfe die Harfe.
Die Blumenelfe war zuerst ängstlich, denn sie hatte noch nie Harfe gespielt, doch dann dachte sie an die Sonne, wie sie auf ihre Blumenwiese schien und sich in Tautropfen spiegelte, an die Berggemsen, wie sie munter über die Felsen sprangen, an das Sternenkind, das so lieblich am Bachufer saß, an den Frosch, wie er von seiner Frau erzählte, an den Wind, der in den Lüften Lieder spielte, und ihre Hände glitten wie von selbst über die Saiten und brachten Freude in die Herzen auf der Erde. Auch ihr eigenes Herz war übervoll vor Glückseligkeit.
Daraufhin sprach die schöne Frau: "Hiermit übergebe ich Dir einen Zauberring. Wenn Du diesen einmal um den Finger drehst, bist Du augenblicklich an dem Ort, wo Du Dich hinwünschtest. Und auch die Harfe sollst Du behalten, damit Du die Herzen erfreuen kannst. Ich wünsche Dir viel Glück auf Deiner weiteren Reise."
Die Blumenelfe bedankte sich überglücklich bei der schönen Frau, drehte an ihrem Ring und war augenblicklich auf ihrer Blumenwiese, wo sie ihren Blumen viele Geschichten zu erzählen und auf ihrer Harfe zu spielen hatte, die dann von den Blumeneltern an die Blumenkinder weitererzählt wurden.
Auf der ganzen Welt reiste nun die Blumenelfe umher, sprach mit den Kindern der Natur, spielte Freude in die Herzen und wußte immer Neues, wenn sie an einem bekannten Orte wieder vorüberkam.