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Die Suche nach der Königstochter

Es war einmal ein uraltes Schloß, das lag ganz einsam in den Bergen. Nur der König und ein Gaukler lebten darinnen, darum verfiel es immer mehr und mehr.
Mit Wehmut dachte der König oft an seine vier Söhne, denen er jedem ein Viertel seines Königreiches gegeben hatte, im Süden, Osten, Westen und Norden. Nur ein winziges Bergtal mit dem uralten Schloß hatte er für sich behalten, denn dies wollte er seiner einzigen Tochter geben. Doch diese ist von einer Reise vor vielen Jahren nie zurückgekehrt. Und die Königssöhne hatten eigene Burgen gebaut, feierten dort ihre Feste und kümmerten sich nicht mehr um ihren Vater.
Dann, nach dem Tode der Königin, verließ auch das Gesinde das Schloß, nur der Gaukler blieb als einziger zurück. Dieser gab dem König immer wieder Hoffnung, daß die Tochter zurückkehren könnte, doch solches wurde für ihn immer schwieriger.

Als der König wieder einmal ganz verzweifelt war, machte ihm der Gaukler den Vorschlag, daß sie doch einmal verreisen könnten und dabei die verschollene Tochter suchen. Gäste wären in nächster Zeit sowieso nicht zu erwarten.

Gesagt - getan. Im Nu war alles für die Reise fertig.

Zuerst besuchten sie die vier Königssöhne. Sie wurden zwar überall freundlich aufgenommen und bewirtet, aber sie merkten, daß sie nicht gerade willkommen waren, weil sie dem fröhlichen Treiben einen melancholischen Ton aufsetzten.

So wanderten sie weiter und machten auf den Burgen und Schlössern in den fremden Ländern immer nur kurz Rast. Und niemand, den sie trafen, wußte irgendetwas über die verschwundene Königstochter.

Eines Tages, sie waren schon viele Monate unterwegs, kamen sie ans Meer. Da es schon Abend war, und nirgends eine Behausung zu sehen war, beschlossen sie, in einer Felshöhle am Strand zu übernachten.

Mitten in der Nacht wachten sie auf, weil sie von Wasser umspült wurden. Sie hatten nämlich nicht bedacht, daß die Flut die Höhle durchspülen würde. Zum Glück fand der Gaukler noch eine trockene Fackel, machte Licht und suchte einen Ausgang. Der Weg, den sie gekommen waren, war nicht mehr möglich, da die Meeresströmung zu stark war. Doch im Hintergrund der Höhle entdeckte der König einen kleinen Spalt, welcher sich, als sie ihm folgten, zu einem schmalen Gang weitete.

Nach einer Stunde Wanderung kamen sie zu einem See mit einer Insel in der Mitte. Auf dieser Insel saß ein spindeldürres Weib, das mit der rechten Hand auf sie beide zeigte und mit einer schrillen Stimme schrie: "Wer hat Euch erlaubt, hierherzukommen, hä?" Dabei rollte sie ihre übergroßen grünen Augen.

Der Gaukler versuchte, die Situation zu erklären, doch das Weib schnitt ihm das Wort im Mund ab: "Wisch-wasch, Ihr Taugenichtse, jeder kommt mit einer Ausrede. Schaut hinter mich, dort liegen sie." Damit zeigte sie auf einen Knochenberg hinter ihrem Rücken, der einen Großteil der Insel ausmachte. Ganz niedergeschmettert setzten sich König und Gaukler nieder.

Das Weib sprach weiter: "Naja, ich will mal nicht so sein, schließlich habe ich heute Geburtstag. Soll der Meeresgott, der mich heute besuchen kommt, über Euch entscheiden." Damit drehte sie sich um und kümmerte sich nicht mehr um die beiden. Und diese saßen ganz stumm da, weil sie jeder Mut verlassen hatte.

Nach einer Weile kam nun der Meeresgott mit einem großen Gefolge. König und Gaukler wurden sogleich in einen Glaskäfig gesperrt und weggebracht, denn sie waren als Geschenk für die Lieblingstochter des Meeresgottes gedacht, weil die beiden gar so friedfertig aussahen.

Im Kristallpalast des Meeresgottes angekommen schaffte man sie sogleich in ein Verließ, wo viele andere Lebewesen untergebracht waren. Da gab es Kühe, Häschen, einen uralten Braunbären, ein paar fette Gänse, ein winzig kleines Pony und einen auf dem Rücken liegenden Esel.

Nach einiger Zeit öffnete sich eine Tür und ein liebliches Mädchen kam herein. Sie zog einen kleinen Wagen hinter ihr her, aus dem sie Futter verteilte. Die Tiere umhüpften sie, ließen sich kraulen und streicheln, und man sah, daß alle ihre Freude daran hatten. Da bemerkte das Mädchen das neue Pärchen, der eine ganz braun gekleidet, der andere ganz bunt. "Nanu, was hat mir denn mein Vater da herbeigeschafft, was mögt ihr denn wohl fressen?" Mit diesen Worten näherte sie sich dem König und dem Gaukler, denn um diese handelte es sich. Der Gaukler, wieder ganz verwegen, sprach zurück: "Nanu, was kommt denn da für ein hübsches Mädchen angetanzt, das so lieb zu den Tieren ist?" Das Mädchen war erst ganz verdutzt, denn zurückgesprochen hatte noch nie jemand. Aber bald waren sie alle in ein lustiges Gespräch verwickelt, auch der König lachte mit. So unterhielten sie sich die nächsten Tage viele Stunden lang.

In der Zwischenzeit erkundigte sich die Tochter des Meeresgottes, welche das Mädchen war, nach der Königstochter. Sie fand auch einen Hinweis: es hieß, die Königin der Lüfte, die alles unter ihre Herrschaft bringen wollte, habe eine Sklavin, die genauso wie die Königstochter aussähe.

Das Mädchen erklärte den beiden auch, daß sich die ganze Macht der Königin der Lüfte auf einem Zauberbuch gründete, welches sie dem Meeresgott gestohlen hatte, und daß dieses Buch nur ein Mensch zurückbringen könnte. Der Gaukler erklärte sich sofort bereit, diese Aufgabe zu übernehmen, denn in seinem derzeitigen Verließ wäre sowieso bald die Langeweile über ihn gekommen.

So ziemlich ohne Ratschlag, denn die Meeresbewohner waren selbst alle ratlos, wurde er zu einer Vulkaninsel, dem Hauptwohnsitz der Königin der Lüfte, gebracht. Dort kroch er in der Verkleidung einer Schildkröte an Land.

Am Abend sah er dann die Königin der Lüfte, wie sie mit einem großen Buch auf den Vulkankegel hinaufflog und bis spät in die Nacht Zaubersprüche sang. Kurz vor Mitternacht flog sie dann mit einem schrecklichen Lachen nach Süden davon, scheinbar ohne Buch.

Da sah der Gaukler seine Chance. Am Fuße des Vulkans zwang er sich aus seiner Verkleidung und kletterte die Felswand hoch, und da er diese Sportart schon von Kindheit her gewöhnt war, dauerte der Aufstieg nicht allzu lange, obwohl er manchmal Umwege machen mußte, weil er da und dort in Felsnischen leuchtende Augen bemerkte.

Oben angekommen, entdeckte er auch sogleich das Pult mit dem Zauberbuch darauf. Er stürzte drauf los, doch er konnte das Buch nicht fortbewegen. Nicht einmal eine Seite konnte er umblättern, als ob alles aus Stein wäre.

Da kam ein Mädchen mit langen, verfilzten Haaren und einem Sklavenring um den Hals daher und überreichte ihm eine Rose mit den Worten: "Nur das Herzblut eines freien Menschen kann dieses Buch lösen."

Der Gaukler nahm die Rose an, hatte aber große Bedenken vor dem weiteren Schritt, denn schließlich war ihm das Leben einiges wert. Doch dann erkannte er in der Sklavin die verschollene Königstochter, und in seinem Schmerz um ihr elendes Dasein beugte er sich über das Buch und stieß sich die längste Dorne ins Herz.

Da wurde es licht um ihn, denn viele Engelwesen, die sich nun aus ihrer Verzauberung lösten, versammelten sich um ihn. Sie brachten ihn, die Königstochter und das Buch in den Kristallpalast des Meeresgottes; daraufhin entzauberten sie das Weib in der Felshöhle auf ihrer Knocheninsel, das sich sogleich in eine wunderhübsche, liebliche Frau verwandelte, denn es handelte sich um die Gattin des Meeresgottes.

Das alles wurde natürlich gebührend gefeiert. Auch der König war überglücklich, daß er seine Tochter wiedergefunden hatte.

Nach einer Woche der Festivitäten geleiteten die Engel den Gaukler, den König und dessen Tochter in ihr uraltes Schloß in dem kleinen Bergtal zurück und verwandelten die ganze Gegend in einen wunderschönen Rosengarten.

Dieser Rosengarten sprach sich natürlich weit herum, denn so ein herrliches Naturwunder war nicht alltäglich. So kamen viele Besucher und auch liebliche Vögel, die sich daran erfreuten und diese Freude der Welt offenbarten.

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